Als ich in China lebte, hatte ich mir irgendwann angewöhnt, auf die dort dem Ausländer gegenüber allgegenwärtige Frage „Where are you from?“ gleich im Anschluss an meine Antwort immer die augenzwinkernde Gegenfrage zu stellen: „And where are YOU from?“ Damit erntete ich im Reich der Mitte durch die Bank und immer ein Lächeln. Weil ja immer und ausschließlich die gleiche Antwort kam und kommen musste: „Haha, China!“ Wenn ich diese Gegenfrage in Indien stelle, kommt kein Lächeln, es gibt keinen wohltuenden Moment der Ironie, sondern ich bekomme eine meist ziemlich ausführliche Antwort, wie die Stadt heißt, aus der mein Gegenüber kommt, wie das Bundesland, wie die Region, in der Nähe welcher anderen Region diese liegt, welche bekannten Sehenswürdigkeiten dort vorhanden sind usw. Keiner meiner Gesprächspartner hat bisher schlicht geantwortet: „From India.“ (Oder gar grinsend: „Haha, from India!“) China und Indien, beides sind Vielvölkerstaaten. Beides sind gigantische Konstrukte, mehr oder minder künstlich, und ähneln letztlich vielleicht mehr einem Imperium als einer Nation. Aber das überregionale Nationalgefühl, das hat die kommunistische Partei deutlich fester im Griff. Das muss in Indien offensichtlich erst noch entwickelt werden. Die hindunationalistische Regierung arbeitet kräftig daran.
Der Sensenmann ist in Indien kein unbekanntes Wesen. Es gibt Zigtausende davon. Auf den Grünanlagen gleich neben den Straßen, in den Parks, und selbst auf dem Campus. Zumindest nenne ich sie für mich so: Sensenmänner. Obwohl das, was sie in der Hand halten, nie eine Sense ist und auch nicht annähernd so aussieht. Eher ist es eine Mischung zwischen Schwert und Machete. Diese lange, dünne Metallklinge ist ihr Handwerkszeug: Sie holen damit weit aus und schwingen sie dann in gebückter Haltung immer knapp über dem Boden in großem Bogen durch. Gleichmäßig, gleichförmig, gleichmütig. So werden riesige Rasenflächen gemäht. Manchmal arbeitet direkt neben ihnen ein anderer Schnitter, und man mag sich nicht vorstellen, was passiert, wenn die beiden einmal für einen kurzen, aber entscheidenden Moment etwas zu dicht nebeneinander stehen. Stellt man sich aber natürlich trotzdem vor. Und schreibt es dann auf.
Ein kleiner Junge läuft vor der Geschäftszeile auf und ab. Seine Haare stumpf und verklebt, vermutlich noch nie gewaschen, ebensowenig wie seine Kleidung, so scheint es. Er bettelt. Ich will ihm ein paar Münzen geben. Aber er schüttelt den Kopf, nimmt das Geld nicht an. Stattdessen sagt er „rice“, macht die Geste für „essen“ und weist mit der Hand mehrmals in den Laden, vor dem wir stehen. Also gehe ich hinein und kaufe ihm ein halbes Kilo Reis. Er nimmt den Beutel an sich und verschwindet. Ich bleibe verwundert zurück und frage mich, ob er selbst auf den Gedanken gekommen ist.
Ich wohne im vierten Stock. Von dort aus kann ich auf umliegende Dachterrassen schauen und habe zudem freie Sicht auf einige unter mir gelegene Balkons. Manchmal sehe ich morgens eine ältere Inderin, die sich auf einer kleinen Terrasse im zweiten Stock gegenüber wäscht. Sie kniet sich dazu hin, in der Hand hält sie einen kleinen Plastikbehälter mit Griff, und mit diesem schöpft sie Wasser aus einer größeren Wassertonne und begießt sich damit. Sie ist dabei nicht nackt, sie trägt Kleidung, eine Art Stofftuch. Trotzdem wende ich jedes Mal den Blick ab.
Vermutlich wäre es vermessen zu sagen, das JRD Luxury Boutique Hotel habe schon einmal bessere Tage gesehen. Eher wendet es seit vielen Jahren seine angestaubte Spiegelglas-Fensterfront ganz genau so der Straße in der Nähe meiner Wohnung zu, wie es das eben jetzt auch noch tut. Aber immerhin: Es handelt sich offiziell um ein Luxushotel. Sogar mit einem eigenen Spa und einem Restaurant wird aufgewartet. Weder in dem Restaurant noch an der Glasfassade, hinter der die Hotelzimmer liegen, sehe ich, wenn ich fast täglich dort vorbeikomme, jemals auch nur ein einziges geöffnetes Fenster. Der Grund dafür ist schnell gefunden. Direkt gegenüber dem Hotel, auf der anderen Straßenseite, in einer Kurve, befindet sich eine Müllkippe. Eine eher kleine zwar. Aber auf der Fläche dieses Müllberges könnte man immer noch ein Einfamilienhaus bauen. Solche Müllkippen sind in Delhi meist nicht von der Stadtverwaltung auf gesonderten, fernab von Wohngebieten liegenden Grundstücken untergebracht. Sie sind ein Teil der Straße, und mit den Jahren gewissermaßen in die Straße hineingewachsen. Aus dem Müllberg ragen an manchen Stellen noch Reste von großen Müllcontainern hervor. Wie zum Beweis dafür, dass das Geschwür hier irgendwann einmal eine normale Straßenkurve war, an der die Anwohner ihren Abfall entsorgen konnten. Heute ist die Müllkippe Rastplatz, Restaurant und vielleicht Wohnort für Krähen und vermutlich andere Tiere. Es arbeiten auch Menschen dort. Sie durchforsten und sortieren den Müll. Der Gestank ist bei den derzeitigen Temperaturen bestialisch. Einmal kommt mir auf der Straße ein Mann auf dem Weg zur Kippe entgegen, der irgendwoanders Abfall gesammelt hat. Er zieht angestrengt eine bis obenhin angefüllte Mülltonne aus Plastik hinter sich her. Das Ganze macht einen großen Lärm, der sogar den Straßenlärm übertönt – der Mülltonne fehlt unten eines der beiden Räder. Rumpelnd schleift er sie, stoisch und völlig selbstverständlich, hinter sich her. Langsam, verschwitzt, ausdruckslos. Die Mülltonne, voller Müll, gehört auf den Müll, das ist offensichtlich. Die Müllkippe gehört nicht vor das Luxushotel. Der Luxus, das Elend. Das ständige Nebeneinander. Das Gleichzeitige. Das Überhaupt. All das soll doch so eigentlich nicht sein. Sondern anders. Irgendwie besser. Und doch. Es ist, als wolle Delhi, als wolle Indien mir ständig etwas zurufen, irgendetwas Wichtiges mitteilen. Wie ein fortwährendes Brüllen direkt ins Ohr fühlt sich das an: „Kapierst du das endlich? He, du! Deutscher! Begreifst du das jetzt??“ Und schon nach diesen wenigen Wochen habe ich oft das Bedürfnis zurückzubrüllen und die ganze Stadt anzuschreien: „Ist ja gut, ich hab’s ja verstanden!!“ Aber ich wüsste, wenn ich darüber nachdenke, immer noch gar nicht zu sagen, was.